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Woche #8

Aktuelle Architektur mit Backstein

Bauen mit Backstein liegt weltweit im Trend. Nach Zeiten der Flaute lässt sich seit einigen Jahren ein bemerkenswertes Ziegel-Revival beobachten. Architekturbüros wie Herzog&de Meuron, David Chipperfield Architects oder Lederer+Ragnarsdóttir+Oei widmen sich der spannenden Wechselwirkung zwischen Material, Struktur und Umwelt und machen das Material zu einem wesentlichen Teil des architektonischen Gesamtkonzepts. Natürliche Materialien rücken dabei in den Fokus, besonders der Ziegel. 

Über geometrische Grundformen artikulieren sich diese hochaktuellen Backsteinhäuser zunächst einfach, ordnend und klar. Das Sichtziegelmauerwerk wirkt harmonisch und lebendig und tritt mit wenigen hochpräzise entworfenen Details in stark reduzierter Materialpalette in eine ganzheitliche Beziehung. Bei der Gestaltung der Ziegel-Fugen-Oberflächen wird auf schmale Formate, warme, matte Farbanteile sowie feine Unregelmäßigkeiten in Farbe, Struktur und Kontur großen Wert gelegt – eine angenehme Atmosphäre aus weich gestreutem Licht, kleinen Schatten und Lichtreflexionen entsteht. Plastische Verbände mit versetzten oder ausgedrehten, dreidimensionalen Ziegelmustern erzeugen darüber hinaus dynamische Lichtstimmungen, die die besonderen Eigenschaften des Raums erfahrbar machen.

So entstehen Bauwerke mit sinnlicher und körperhafter, anregender oder beruhigender Anmutung. Gleichzeitig wirken die Bauten „lesbar“, verständlich und berücksichtigen die menschlichen Körperproportionen und Wahrnehmungsweisen. Die Gebäude treten in Beziehung zur gebauten oder landschaftlichen Umgebung, knüpfen an ihr an und vermitteln sich häufig über vertraute Gestaltungselemente. Auf diese Weise stiften sie auf mehreren Ebenen Orientierung. Architektur zeigt sich hier als feinsinniger Ausgleich zur hyperkomplexen, entmaterialisierten Welt. 
Und in Hamburg: lassen sich auch hier backsteinerne Neubauten entdecken, die sich als menschenfreundliche Trendsetter zeigen? Ist es gerechtfertigt, dass bisher kein einziges zeitgenössisches Gebäude dieser Stadt einen der vielen Ziegelpreise gewonnen hat und auch nicht in Philip Jodidios großartigem Bildband 100 Contemporary Brick Buildings erscheint?

Die Hansestadt ist so stolz auf sein historisches Ziegelerbe, das charaktervoll und identitätsstiftend ihr Stadtbild prägt; ganze Viertel wie Hamm, Winterhude und Veddel oder Barmbek, Dulsberg und Altona erzählen beispielhaft davon. Größte Aufmerksamkeit gebührt zumeist den ikonenhaften Bauwerken wie dem UNESCO-Welterbe mit historistischer Speicherstadt und expressionistischem Kontorhausviertel oder auch der prägenden Backsteinära der Architektenkollegen Fritz Schumacher und Gustav Oelsner.

Was aber hat die aktuelle Architektur aus Backstein hier zu bieten? Wie zeigt sie sich: als ökonomische Belanglosigkeit, schlechte Bausünde, am Erbe anknüpfende Konstante oder gar als visionäre Bereicherung?

Diese Auswahl zeigt einige der interessantesten Backsteinbauten, die in den letzten Jahren in Hamburg gebaut wurden. 

Text: Lydia Ninon Schubert  lydiaschubert.de

Familienquartier Finkenau

Variationsreiche Klinkergestaltung, alter Baumbestand, selbstbewusste Bürgerlichkeit: Von Eilbekkanal und Oberaltenallee gerahmt, ist auf den Flächen eines früheren Pflegeheims im Stadtteil Uhlenhorst ein neuer ausdrucksvoller Wohnort mit über 650 geförderten und privat finanzierten Einheiten sowie Kindertagesstätte entstanden. Es sind die zusammenhängenden Zeilen aus 26 zwei-, meist dreigeschossigen, schmalen Stadthäusern, die die behagliche Atmosphäre des Viertels auf besondere Weise prägen. 

Inspiriert vom historischen Stadthaus der Gründerzeit, entwarfen hierfür mehrere kooperierende Architekturbüros wie Kraus Schönberg Architekten oder Adam Khan Architects einzelne Häusertypen, die basierend auf einem gemeinsamen Gestaltungsrepertoire eine hochindividuelle Ausformulierung erfuhren. So ähneln sich die modern interpretierten Bürgerhäuser grundsätzlich in Größe, Volumen, Material und dem Einsatz von Gestaltungselementen wie Erkern (Vorbauten) und Staffelgeschossen (zurückgesetzte Obergeschosse). Gleichzeitig strahlen sie ihren eigenständigen Charakter über plastische Fassadendetails, expressionistisch, historistisch oder modern anmutende Flächen- und Reliefmuster sowie facettenreiche Ziegeltypen und Mauerwerksverbände aus. Auch das nuancenreiche Spiel der unterschiedlichsten Backsteinfarben zwischen Rot- und Grautönen trägt zum lebendigen Erscheinungsbild der Wohnzeilen bei, in denen niemals die gleichen Häusertypen nebeneinander zu finden sind. 

So präsentiert sich das Wohnquartier als beschwingte „Einheit in der Vielheit“. 

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Ökumenisches Forum HafenCity

Siebengeschossige Blockrandbebauung, monotone Lochfassade, roter Backstein im Normalformat und Läuferverband – und trotzdem: Das Ökumenische Forum im Elbtorquartier, dem Fokusbereich der HafenCity für Wissenschaft, Bildung und Kreativität, ist absolut kein Standardgebäude. 

Das Frankfurter Architekturbüro Wandel Lorch Architekten (heute: Wandel Lorch Götze Wach Architekten) hat an der Shanghaiallee ein ungewöhnliches Stadthaus entworfen, das durch dreidimensionale Ausbeulungen in der Ziegelfassade auf seine Andersartigkeit aufmerksam macht. Das Gebäude vereint nämlich Wohn- und Bürohaus mit dem einzigen Sakralbau der HafenCity, der neunzehn christliche Konfessionen eint. Die plastischen Gestaltungselemente werden mit kirchlichen Symbolen kombiniert und geben Hinweise darauf, wo im Bau Kapelle und Stadtkloster des Laurentiuskonvents zu finden sind. 

Auf der Fassadenvorderseite weist eine nach Innen gewölbte Einbuchtung sowie ein Kreuz aus dunkel lasiertem Ziegel den Weg in die bescheidene Kapelle, deren Apsis sich als heftige Beule in der Fassadenrückseite auftut. Die Sichtbarkeit der freihängenden Glocke mit Joch profitiert von der zweiten organischen Delle in der Schauseite und verweist bereits von Weitem auf die sakrale Bestimmung des in Bewegung zu scheinenden Bauwerks. 

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Atelierhaus Hochschule für bildende Künste (HFBK)

Endlich keinen Platzmangel mehr an der Hamburger Kunsthochschule: Nach einer unglaublichen Wartezeit von vierzig Jahren hat die HFBK ihren dringend benötigten Erweiterungsbau auf der Freifläche nordwestlich des denkmalgeschützten Hauptgebäudes erhalten. Das neue Atelierhaus von Winking Froh Architekten beherbergt flexible Ausstellungflächen im Erdgeschoss sowie funktionale Atelierräume für Masterstudierende der Fachrichtungen Malerei, Zeichnen, Bildhauerei und zeitbezogene Medien in den drei oberen Stockwerken. 

Der freistehende Ziegelbau wirkt durch seine monolithisch-geschlossene Form distanziert und behäbig, spannungsreich durch schräg eingeschnittene Fensterlaibungen in gespiegelter Ausrichtung sowie beschwingt und nahbar durch eine Fassade aus höchst unregelmäßigen roten Klinkern im wilden Verband. Je nach Wetter und Tageszeit wird so das Gebäude von stimmungsreichen Lichtsituationen begleitet. 

Dem neuen Atelierhaus gelingt eine gesunde Beziehung zum benachbarten Fritz Schumacher-Bau von 1923. Seine Form orientiert sich an den Schumacher‘schen Pavillons, sein Eingang nimmt sich konkurrenzlos zurück, seine Ausrichtung ist geringfügig zur Hauptstraße verschoben, wodurch ein trichterförmiger, einladender Freiraum entsteht. Das Bauwerk artikuliert sich auf diese Weise eigenständig, zugleich in dynamischer Auseinandersetzung mit dem Bestehenden.

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Stadthaus Ottensen

Es ist eine introvertierte, geheimnisvolle Geste, die vom schmalen Stadthaus Ottensen dezent ausströmt. Direkt ins Auge fällt die fein geschwungene Rundung der Straßenfront und die daran ums Eck anschließende, gänzlich geschlossene, lebendig schimmernde rote Torfbrandklinkerfassade im wilden Verband. Die wenigen ersichtlichen Details, zwei rhythmisch versetzte Fenster an der schmalen Straßenfront und der fein eingerückte, stufenlose Eingang mit Kopfsteinpflaster, geben nur wenige Hinweise auf die Bestimmung des Hauses. Dieses fügt sich stimmig in die heterogene Stadtstruktur der Umgebung ein und bildet mit der Schließung der Baulücke einen geschwungenen Schlussakkord der von der Holländischen Straße in die Kirchentwiete einbiegenden Häuserzeile.

Der materielle Ersteindruck täuscht, das Stadthaus Ottensen ist eigentlich ein Holzhaus mit backsteinernen Brandwand, das mit einer raffinierten Gestaltung auf knifflige Vorgaben zur Grenzbebauung, fehlenden Abstand zur Nachbarbebauung und unterschiedlichste Geländehöhen reagiert. 

So ist ein dreistöckiges Gebäude mit zwei wohl durchdachten Wohneinheiten entstanden, dass sich ins Innere nach Norden zu Garten und Wohnterrasse mit einer rhythmischen Gebäudestaffelung aus horizontalen und vertikalen Elementen öffnet. Ein atriumähnliches Oberlicht verbindet beide Obergeschosse miteinander und öffnet das Gebäude zusätzlich nach oben, wo eine Dachterrasse zu finden ist. Münch Architekten beweist mit dem Stadthaus Ottensen, dass qualitätvolle Architektur auch unter vielerlei Reglementierungen möglich ist. 

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Geschäftshaus Große Bleichen 19

Es ist die Haltung absoluter Selbstverständlichkeit, die das sechsgeschossige Geschäftshaus mit Einzelhandel Große Bleichen 19 in Hamburgs zentraler Einkaufsstraße am umtriebigen Bleichenfleet ausstrahlt. Dass hier, zwischen den denkmalgeschützten Bauwerken Alte Post und Galleria Hamburg, vor nicht allzu langer Zeit noch ein als unpassend bewerteter Bau aus den 1970ern gestanden haben soll, scheint geradezu abwegig – so kohärent wirkt die heutige Zeile. 

Indem Tchoban Voss Architekten von den ungleichen Nachbargebäuden des 19. und 20. Jahrhunderts spezifische Fassadenlinien aufnimmt und zusammenführt sowie die verschiedenen Gebäudehöhen durch Staffelungen integriert, gliedert sich das neue Bürogebäude äußerst versöhnlich und nahtlos in sein geschichtsträchtiges Umfeld ein. Erwartungsgemäß wurde bei der materiellen Gestaltung des Bürogebäudes auf das ortstypische Material Backstein zurückgegriffen; nicht jedoch auf irgendeinen, sondern auf den dänischen, wassergestrichenen Kohlebrandziegel. Dieser wirkt durch seine Verarbeitung wie handgemacht und weist durch den Brand mit Kohle ein variationsreiches Farbenspektrum auf, dem auch die Farbnuancen der Nachbargebäude innewohnen. 

Trotz seines einfügenden Grundcharakters strahlt das Geschäftshaus mit bodentiefen Fenstern ein starkes Selbstbewusstsein aus, das durch seine lebendige Materialität und besonders durch die horizontalen, abgestaffelten Fassadenelemente eine autarke Wirkungskraft entfaltet.

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Elbphilharmonie Hamburg und ihr ehemaliger Kaispeicher A

Die „Elphi“ – entworfen von den populären Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron – ist Hamburgs liebgewonnenes neuestes Wahrzeichen. Unzähliges ist über das 26-geschossige Konzerthaus mit drei Sälen, mit Hotel, Gastronomie, Parkhaus, Eigentumswohnungen und öffentlich zugänglicher „Plaza“ berichtet worden. Die krassen Kontroversen des inzwischen als Jahrhundertbauwerk geltenden Kulturbaus waren schon kurz nach Eröffnung in den Hintergrund gerückt. So ragt seit sieben Jahren nun die aufschwingende Silhouette des gläsernen Aufbaus schillernd von der Elbinselspitze in den Himmel empor und trägt mit über eintausend reflektierenden Glaselementen zur eindrücklichen Hafenatmosphäre bei. Je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit leuchtet der Spektakelbau in anderen – blauen, grauen oder gar rötlichen – Farbtönen. Die einen sehen in der bildkräftigen Elbphilharmonie ein Segel oder Wellen, andere ein Kristall oder Eisberg.

Weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber keinesfalls unwichtig für die besondere Wirkung des zweiteiligen Gebäudes, ist sein achtstöckiger Unterbau, der sogenannte Kaispeicher A. In der damalig größten Lagerhalle des Hafengebiets wurde einst Tabak, Tee und Kakao gelagert. Letztendlich beruht die Elphi auf dem (zugegebenermaßen höchst umfangreichen) Um- und Aufbau dieses 1966 von Architekt Werner Kallmorgen im Stile der Nachkriegsmoderne erbauten Speichers. Mit roter, einfach-poetischer, historischer Backsteinfassade im wilden Verband bildet der keilförmige, geometrisch-rechtwinklige Monolith das Podest und die Bühne des darüber sich aufschwingenden, leicht zu schweben scheinenden gläsernen Schauspiels. Die Elbphilharmonie zeigt sich so als kontrastreiche, imposante Einheit aus Materie und Form, Statik und Organik, Bodenständigkeit und Temperament. 

Weitere Infos und Standort auf: www.mapofarchitecture.com 

 

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit Lydia Ninon Schubert entstanden.

Lydia Ninon Schubert hat in Karlsruhe Kunstwissenschaften und Medienphilosophie studiert und ihre Magisterarbeit über "Ziegel in der Gegenwartsarchitektur" geschrieben. Die Magisterarbeit kann hier eingesehen und heruntergeladen werden. 

Lydia Ninon Schubert arbeitet als freie Architektur- und Kunstwissenschaftlerin. www.lydiaschubert.de

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Über uns

Bauwerke prägen unsere Umwelt wie kaum etwas anderes. Doch welche klugen Köpfe stecken hinter den Gebäuden? Mit „Map of Architecture“ bringen wir hier Licht ins Dunkel. In Hamburg sind die Angaben von mehr als 12.000 Häusern verfügbar, in anderen Städten gibt es erste Einträge, z.B. in Kopenhagen.